Über Gestaltungsmaxime
Es gibt keinen Zweifel. Das 21. Jahrhundert wird Menschen hervorbringen, die ein anderes Bewußtsein, andere Anforderungen haben als die Generationen vor ihnen. Das ist schon in den letzten Jahrzehnten vor dem Zeitenwechsel deutlich geworden. Ein neuer Merkantilismus ist entstanden. Wer an der Börse mitspielt, ist progressiv, wer von der eigenen Arbeit lebt und Dingliches produzieren möchte, ist rückständig. Das Kapital ist zum Religionsersatz geworden, weil es kein religiöses Weltbild mehr gibt, das der Gesellschaft Mass und Ziel vorgeben könnte. Geistig begründete Werte, die Sicherheit vermitteln, die nicht ideologisch sind, die einen annehmbaren Platz in einem würdigen Projekt des Menschheitswohlgefallens ausweisen, sind unauffindbar. Auch hier hat Gestaltung die notwendige nachhaltige Anforderung aufgegeben. Gestaltung mit den Mitteln des Kapitals verlangt auch Verantwortung gegenüber dem, was ein Miteinander ausmacht. Es kann nicht nur als peripheres Gebinde mit dem Kern eines opportunistischen Pragmatismus agieren. Wofür haben wir unser Grundgesetz, wenn es niemand liest, geschweige denn danach handelt.

Glücklicherweise haben rechte wie linke Missionare den Versuch aufgegeben, mit Politik und Ideologie unsere Gesellschaft zu verändern. Dennoch hat das Überwinden der vielarmigen Gesinnungskraken vergessen gemacht, dass der Monetarismus als eine Art Ersatzfunktion einen Sinneswandel bei den Menschen herbeigeführt hat, der unsere Gesellschaft stärker verändert als alles andere zuvor. Das wird dann Zeitgeist genannt. Einige Komponenten haben uns lange vor heissen Kriegen, wie wir sie schon erlebt haben, verschont, weil der kalte Krieg erfunden wurde, der der westlichen Welt friedliche Zeiten von historisch einmaliger Dauer verschafft hat.

Unsere Zeit ist aber nicht nur friedfertig, obwohl sich die westliche Welt zugute hält, den alten gemeinsamen Traum verwirklicht zu haben: eine europäische Gemeinschaft. Die Staaten, die sich vor sechzig Jahren noch befeindet und bekämpft haben, sind im europäischen Haus friedlich vereint. Aber auch in Europa gibt es Staaten, die noch nicht unter diesem Dach leben. Und dass Kriege trotz der Erfahrungen des letzten, martialischen Jahrhunderts immer noch möglich sind, zeigt uns der Balkan. Immer noch lassen Menschen aus ideologischen, ethnischen und auch wirtschaftlichen Gründen ihr Leben. Die Menschheit hat nichts dazugelernt. Immer noch werden Gewalttätigkeiten verübt und Kriege geführt, obwohl die Weltbevölkerung sich nach Frieden sehnt. Viele Schlachten werden von interessierter Seite angeheizt, viele sind in der Öffentlichkeit in Vergessenheit geraten. Ob in Irland oder Algerien oder Spanien oder in anderen Regionen der Welt. In scheinbar friedlichen Gegenden werden immer wieder und immer noch terroristische Anschläge verübt, die auch immer Menschenopfer fordern. Der 11. September hat uns gezeigt, dass es ein weltweites Netzwerk von Fanatikern gibt, die ihr Leben opfern, um anderes Leben tausendfach zu zerstören. Der Terrorismus hat die Welt in Aufruhr versetzt, gerade weil überall aus Macht- und Vernichtungsgelüsten neue Kriege ins Kalkül gezogen werden. Krieg wird wieder zum Instrument der Politik, Machtpotenziale werden eingesetzt, um Drohgebärden zu verstärken. Es wird vom Krieg gesprochen, als handele es sich um Wetterberichte. Krieg, den die Menschen nicht haben wollen, den aber Politiker als Aktionsfaktor für ihre Interessen benötigen. Die Enkelgeneration hat die entsetzlichen Kriege, die ihre Grosseltern durchlitten, vergessen. Es ist möglich das eine Weltmacht, die vorgibt, sich immer für die Menschenrechte einzusetzen, selbst diese verletzt und ein Land mit Krieg überzieht, weil es ihren Interessen dient.

Die Kultur einer sozialen Gruppe begründet sich in der Gesamtheit ihrer typischen Lebensfomen und der sie tragenden Geistesverfassungen und Werteeinstellungen. Wenn wir die Begrifflichkeit Kultur in Verbindung mit dem Begriff Entwerfen verwenden, dann gehen wir von einer Entwurfsexistenz aus, die Form, Inhalt und Wert auf das künstlich zu erstellende Gebrauchsgut bezieht. Dieses bildet einen Gegensatz zur gewachsenen Natur, es ist ein Artefakt.

Es geht um die Maxime, die ein Entwurf voraussetzt, um die Verständlichkeit, um den sinnvollen Gebrauch, um den funktionsgerechten Nutzen, die eine Gestaltung zu berücksichtigen hat. Ich meine hier nicht einen bestimmten Stil, keine ästhetische Richtschnur, auch kann ein analoger oder digitaler Entwurf nicht nur einem einzigen normativen Formenkanon folgen. Es geht vielmehr darum, den Entwurf immer aus der jeweils gegebenen Problemstellung heraus zu entwickeln. Die Prämisse lautet:

Was ist nötig und was kann an Neuem für etwas noch nicht Vorhandenes entwickelt werden?

Das analoge wie das digitale Entwerfen für eine visuelle Informationsgestaltung setzt voraus, dass die bildlichen Mitteilungen für die massenkommunikativen Prozesse verstehbar und verständlich sind.

Verstehbar bedeutet, dass bekannte Zeichen benutzt werden; verständlich heisst, die visuelle Komplexität einer Botschaft darf nicht überzogen sein, nicht durch konnotative Floskeln, durch Beiwerk überlagert werden. Es kommt darauf an, dass nicht der schöne Schein beabsichtigt wird, sondern der richtige Ausdruck.

Damit Gestaltung für eine Zeichenübermittlung sinnvoll ist, muss sie einer rationalen Entwurfskonzeption folgen. Eine konstruktive Gestaltung – das heisst, eine analytische Vorgehensweise, die zur reflexiven Gestaltung hinführt – geschieht nicht durch das intuitive Finden von Zufälligkeiten. Konstruktive Prinzipien sind kein Selbstzweck einer Gestaltung, sondern sie sollen eine Reflexion auf Funktion, Gebrauch und Anwendung ermöglichen.

Wenn Funktion als prozessuale Abhängigkeit von Sachverhalt und Vorgang begriffen wird, ist diese Gestaltung nicht minder funktionalistisch. Die Verquickung dieser Aspekte führt oft genug zum Irrtum und wird weitergetragen, ohne den heutigen Realitäten und sozialen Verflechtungen nachzuspüren.

Die menschliche Kultur wird durch Bilder oder Zeichen bestimmt und durch Symbole bewertet. Symbole wollen neue Werte geben, Werte erweitern. Die Symbolisierung als identifizierbare Festlegung ist in unserer Objektwelt allenthalben zu beobachten. Es wird eher eine syntaktische Grösse beschrieben, die semantische Inhaltlichkeit aber wird vernachlässigt oder gar verfremdet. Die Symbole haben eine visuell registrierbare Welt verändert, nicht die Zeichen. Symbole wollen über die Sache hinausgehen, einen Einblick in das Dahinter geben – eben symbolisieren. Unsere Gerätewelt heute ist eine Welt von Symbolen, die nicht den Ursprung der Dinglichkeit bezeichnen, sondern den Gebrauchswert erhöhen wollen. Die Dinge des Gebrauchs sind heute mehrheitlich eine „black box“, die lediglich mit neuen Erscheinungsformen überzogen wird. Der PC zum Beispiel ist als komplexe Konfiguration von vernetzten Strukturen, Energieträgern, Materialien entwickelt worden. Seine Erscheinung wird dem Computer im Nachhinein wie ein Kostüm übergestülpt. Dies spricht nicht für das Unvermögen des Gestalters, es beweist vielmehr seine Abhängigkeit von der Gesamtsituation von Entwicklungs-, Produktions- und Verteilungsstrategien. Denn er hat erkannt, dass die Gestaltung das Erscheinungsbild, die Erscheinung der Produkte liefert, die den Symbolwert schaffen.

Und so werden auch in der visuellen Information mehr Symbole erfunden als Zeichen gesetzt, Zeichen, die eine verständliche Sprache transportieren würden. Wie schnell geht dem Typografen über die Lippen, dass eine Serifenschrift eher Wissenschaftlichkeit symbolisiert als eine serifenlose Schrift. „Wissenschaftlichkeit“ wird damit als Wertsymbolik deklariert. Dass die Schriftkonfiguration mit den Aspekten der Entwicklung von Schrift, mit ergonomischen Tatbeständen, mit Lesbarkeit oder Gestaltungsökonomie zu tun hat, wird vernachlässigt. Es gibt noch mehr Beispiele für die Anwendung syntaktischer Mittel, die für die Symbolisierung der Zeichen herhalten müssen. Alte überlieferte Rezepte ästhetischer Transformationen werden ausgegraben, weil man der Modernisierung der Gestaltung unsicher gegenübersteht.

Für eine Gestaltungsmaxime ergibt sich eine Reihe von polaren Bedeutungsfaktoren, die bei Gestaltungsoperationen zu berücksichtigen sind:

1. Die Formalisierung
ist die Festlegung der Gestalteigenschaften, die sich immer nach dem Vorhandenen ausrichtet. Für eine reflexive Gestaltung jedoch ist die prozesshafte Strukturierung der Sachverhalte notwendig.

2. Die Verfremdung
der Gestaltungsinterpretation ist ein Mittel der Neubewertung. Eine funktionsausübende Zeichengebung muss sich nach der Kausalität des zu vermittelnden Sachverhalts richten.

3. Die Aufwertung
eines Gestaltungsresultats kann durch additive Mittel herbeigeführt werden, hierfür wird oft das Ornamentale benutzt. Die objektiven Mittel, die sich auf Funktion und Nutzen des Objekts beziehen, liefern der Gestaltung den Sachbezug.

4. Zufällig entstehende
Gestaltungsergebnisse, die ohne Zweck sind, die die Interpretation einer Nachricht oder Information offenlassen, um sich durch Wahrnehmung und Interpretation neu einzuordnen, verfehlen den Sachbezug der Information. Die zweckerfüllende Gestaltung hat Zweckmässigkeit als „allumfassendes Prinzip“ in der Übereinstimmung von Material und Ökonomie der Gestaltung.

5. Symbolisierung
ist eine Verfremdung des Zeichens, das für etwas steht. Die Unterscheidbarkeit von Symbol und Zeichen stellt eine Bewertung dar. Eine Zeichengebung deutet auf eine Sache oder einen Sachverhalt hin. Das Symbol greift über das Zeichen hinaus, es steht hinter dem Sachverhalt. Ein Symbol ist nicht die Entsprechung der Wahrheit einer Zeichenaussage. Der Gebrauchswert des visuellen Symbols ist nicht nachprüfbar, er lässt sich nur am Produkt messen.

6. Der Wertbezug
speist sich aus einem dem Produkt zugeordneten Gebrauchswert, der durch Symbole dargestellt wird. Der Sachbezug spiegelt sich im Zeichen als einem Äquivalent wider.

7. Die Komprimierung
aller Massnahmen, die eine Gestaltung, eine visuelle Sache hervorbringen, wird bei einer affirmativen Auslegung eher eine Gefallensästhetik aufweisen, da hier eine Kunstproduktion im Vordergrund steht. Die Objektästhetik ist aus der Sache, aus dem der Aufgabe entsprechenden Entwurf heraus entwickelt. Jede Linie, jede Kontur, die der Konfiguration entspricht, stellt eine Objektästhetik dar, die mehr aussagt als konfigurale Anleihen an eine Kunst, die dem Selbstzweck dient.
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Übergeordnetes Verzeichnis

© Herbert W. Kapitzki, Berlin 2003
letzte Änderungen: 12. 8. 2003